"Der Newskij-Prospekt" von Nikolai Gogol. Vorwort. (Auszug)

In: N. W. Gogol. "Der Newskij-Prospekt". Zweisprachige Ausgabe (deutsch-russisch). Berlin 2009. S. 12 - 33.

"Die Einfachheit und Treue der Schilderungen Gogols hat einen großartigen Reiz, für den wir kaum den richtigen Ausdruck zu finden wissen. Hier ist heroisches und idyllisches Leben, wilde Naturkraft und schmuckreiche Eleganz wie im Stoffe so in der Darstellung, und oft begegnet uns ein breiter, milder Humor, der wohl an manche Gebilde Jean Paul Richters erinnern kann."

So äußert sich der im 19. Jahrhundert bekannte Schriftsteller, Publizist und Russlandkenner Varnhagen von Ense im Jahre 1841 in einem Artikel für das "Archiv für wissenschaftliche Kunde von Russland" über Gogol und zieht damit ein erstes Resümee über dessen Schaffen, welches dem Haupttenor der zeitgenössischen deutschen Kritik entspricht.

Die erste wissenschaftlich nachgewiesene Erwähnung Gogols findet sich in Deutschland schon im Jahr 1834 im "Magazin für die Literatur des Auslandes". Das Erscheinen seiner Werke wird fortan auch in Deutschland in den entsprechenden literarischen Zeitschriften erwähnt oder sogar ausführlich gewürdigt, so dass man konstatieren kann, dass sich Gogol hier etwa zeitgleich mit Puschkin und Lermontow durchsetzte. Die "Braunschweiger Mitternachtszeitung" (Nr. 91, vom 07.06.1838) geht in ihrem Urteil sogar weiter und bezeichnet Gogol als den nach Puschkin bedeutendsten russischen Schriftsteller.1 Dabei wird vor allem Gogols komisches Talent hervorgehoben, akzentuiert man seine Kritik der sozialen Zustände in Russland und sein "Lachen unter Tränen". Der deutsche Leser möchte wissen, wie die Russen denn so sind und daher ist es nicht verwunderlich, dass es vor allem die "typisch russischen" Werke Gogols waren, die im Blickfeld des Interesses standen. Besonders die Erzählungen aus dem "Mirgorod-Zyklus" erfreuten sich in diesem Kontext besonderer Popularität. So wurden zum Beispiel die "Altväterlichen Gutsbesitzer" zwischen 1840 und 1851 sechsmal übersetzt. Weiter standen auf der Liste der in Deutschland bekanntesten Werke die "Toten Seelen" und der "Revisor".

Außer dem Lesepublikum und der Kritik wurden aber auch deutsche Künstler und Schriftsteller auf Gogols Schaffen aufmerksam. Heinrich Heine schrieb seiner Mutter am 15.06.1850 aus Paris einen Brief, in dem er um die Zusendung von Schriften N. W. Gogols bat.2

Zu den deutschsprachigen Schriftstellern, die einem nachweisbar nachhaltigen Einfluss der Werke Gogols unterlagen, gehören Franz Kafka, Alfred Döblin, Elias Canetti und Günter Grass. Kafka, zum Beispiel, verweist in seinen Tagebüchern wiederholt vor allem auf Gogol und Dostojewski, wenn es darum geht, Inspirationsquellen für sein Schaffen zu benennen. Es ist wohl das "Absurde", der Einbruch des völlig unerwartet Sinnlosen in die dann ebenfalls als "gespenstisch" entlarvte Wirklichkeit, das Kafka so an einem russischen Zunftgenossen interessierte.

Erwähnenswert ist vielleicht noch der Umstand, dass Anna Seghers in ihrer 1972 verfassten Novelle "Treffen unterwegs" Gogol, Hoffmann und Kafka in einem Prager Café zusammenbringt und diese gegenseitig ihr Schaffen diskutieren lässt.

Was die deutsche Literaturkritik betrifft, so stieß hier, wie in Russland, die sich mit Gogols Arbeit am zweiten Teil der "Toten Seelen" manifestierende mystisch-religiöse Suche auf Unverständnis, die dann in den 1847 erscheinenden "Ausgewählten Stellen aus dem Briefwechsel mit Freunden" einen Höhepunkt fand und im Laufe der Zeit dazu führte, dass die um sein Schaffen geführten Auseinandersetzungen teilweise so kontrovers waren und einander widersprachen, wie es bei keinem anderen russischen Klassiker der Fall ist.

[...]

Das Leben lässt sich nicht beherrschen, es will ergründet und vorsichtig, nach und nach in Besitz genommen werden. Gogol lehrt uns, was es bedeutet, die Realität genau zu betrachten, menschliche Züge in jedem Wesen zu entdecken, im besten Sinne des Wortes, human zu sein. Er sah in jedem Wesen die Möglichkeit zur Selbstvervollkommnung. Er stellt nicht Ideal und Wirklichkeit einander diametral gegenüber, sondern sucht ersteres noch in den dunkelsten Tiefen der Letzteren.

Gogol verschiebt die Konzeption der Erzählung über einen armen Träumer aus der phantastischen Ebene in die Darstellung des "Ungewöhnlichen" in der Wirklichkeit. Nicht zufällig wurde in der letzten Fassung des "Newski Prospekts" im Gegensatz zum Entwurf die realistische Seite der Träume Piskarews verstärkt. Die Korrekturen zeigen, dass er den realistischen Ton seiner Erzählung bewusst unterstreichen wollte. Der "Newski Prospekt" stellt in dieser Hinsicht eine wesentliche Etappe der Evolution Gogols von der Romantik des frühen Schaffens zum Realismus des "Revisor" und der "Toten Seelen" dar.

Nichts ist auf dem "Newski Prospekt", wie es scheint. Das auf den ersten Blick böse kann gut, das Gute böse, dass Helle dunkel, das Dunkle hell sein. Was auf den ersten Blick verwerflich ist, offenbart vielleicht nur andere Dimensionen des menschlichen Daseins.

Aber auch die hier vorgelegte Interpretation ist nur eine Möglichkeit, Gogols "Newski Prospekt" zu betrachten und einen Weg im Petersburger Nebel zu finden, und wer weiß, vielleicht ist alles ganz anders. Im Schein der trüben Laternen mag auch der Teufel sein Unwesen treiben, aber dies darf der Leser selbst entscheiden.

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1: Siehe zu Gogol in Deutschland im 19. Jahrhundert: Reissner, E.: N. V. Gogol' und die natürliche Schule. In Deutschland und die russische Literatur (1800 - 1848). Berlin 1969, S. 213 - 224.
2: Vgl.: von Embden, L.: Heinrich Heines Familienleben. Hamburg 1892, S. 197.
Siehe dazu auch: Seidel-Dreffke, B.: Die Haupttendenzen der internationalen Gogolforschung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (deutschsprachiges Gebiet, USA, Großbritannien, Sowjetunion). Frankfurt am Main 1992.

 

 

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